Gelbwesten finden neue Stimme im Theater gegen Macrons Politik
In einem Gemeindesaal in Lille versammeln sich an einem Sonntagnachmittag zehn Laienschauspieler zu einer besonderen Theaterprobe. Sie alle verbindet nicht die Kunst, sondern ihre gemeinsame Vergangenheit als Teilnehmer der Gelbwestenproteste von 2018 und 2019.
Die Protestbewegung, die damals gegen die Erhöhung der Kraftstoffsteuer und für soziale Gerechtigkeit auf die Straßen ging, hat eine neue Form des Widerstands gefunden. Aus den ehemaligen Demonstranten ist eine Theatergruppe geworden, die ihre politischen Botschaften nun über die Bühne vermittelt.
Soziale Not als Antrieb für künstlerischen Protest
Marine Guilbert, 66 Jahre alt und Reinigungskraft, trägt noch immer stolz ihre Gelbweste am Rucksack. Mit weniger als 1000 Euro monatlichem Einkommen ist sie auf die Unterstützung ihres Sohnes und Lebensmittelpakete angewiesen. "Es ist schlimmer als zuvor", klagt sie über die aktuelle Situation in Frankreich.
Die Theatergruppe wurde von Anne-Sophie Bastin gegründet, einer Rechtsanwältin und ehemaligen Gelbweste. "Wir haben so viel Gewalt gesehen, so viel Ungerechtigkeit durch die Polizei. Deswegen haben wir beschlossen, das auf die Bühne zu bringen", erklärt sie ihre Motivation.
Von der Straße auf die Bühne
Das neue Stück der Gruppe handelt von Bobby Sands, dem IRA-Mitglied, das 1981 im Hungerstreik starb. Ende November soll es im Theater von Wasquehal vor 400 Zuschauern aufgeführt werden. Für viele der Laienschauspieler ist es der erste Kontakt mit professionellem Theater, da die hohen Eintrittspreise sie normalerweise ausschließen.
Die ursprünglich 40-köpfige Gruppe ist heute auf 15 Mitglieder geschrumpft und hat sich auch für Freunde und Familienmitglieder geöffnet. Während der Proben komponiert die Rentnerin Yolaine Jean Pierre Lieder, die alle ein gemeinsames Thema haben: ihre Kritik an Präsident Emmanuel Macron.
Strukturelle Probleme erfordern neue Protestformen
Politikwissenschaftler Julien Talpin von der Universität Lille sieht in dieser Entwicklung ein Symptom tieferliegender Probleme: "Weil das politische System Frankreichs nicht mehr in der Lage ist, Ungleichheiten zu kompensieren, findet die Wut andere Wege."
Tatsächlich zeigen aktuelle Daten ein besorgniserregendes Bild: Laut einer Umfrage der Zeitung "Le Monde" sind 95 Prozent der Franzosen mit dem Zustand ihres Landes unzufrieden. Die öffentliche Verschuldung übersteigt 100 Prozent der Staatseinnahmen, während die Armutsquote seit 20 Jahren kontinuierlich steigt.
Macrons Reformversuche, vom Rentensystem bis zur Streichung von Feiertagen, stoßen regelmäßig auf heftigen Widerstand. Seine schwache parlamentarische Basis verhindert die Umsetzung seiner wirtschaftspolitischen Agenda.
Neue Protestbewegungen entstehen
Während die ursprünglichen Gelbwesten an Schwung verloren haben, formiert sich bereits eine neue Bewegung namens "bloquons tout" (blockieren wir alles), die das gesamte öffentliche Leben lahmlegen will. Dies zeigt, dass der soziale Unmut in Frankreich keineswegs abgenommen hat.
Für Marine Guilbert und ihre Mitstreiter bleibt das Theater ein wichtiges Ventil: "Ich hoffe, dass unsere Stimme draußen und auf der Bühne gehört wird." Jean Pierre betont die Einigkeit der Gruppe: "Wir kämpfen denselben Kampf. Wir denken das Gleiche."
Die Transformation der Gelbwesten von Straßenprotestlern zu Theaterschaffenden verdeutlicht, wie sich sozialer Protest in Frankreich wandelt. Angesichts der anhaltenden strukturellen Probleme und der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung dürften weitere kreative Formen des Widerstands folgen.